Wir gedenken zuvorderst der ermordeten und entführten Zivilist:innen. Allen Menschen, die ihr zu Hause, ihr Umfeld, ihre Mitmenschen oder ihr Leben verloren haben. Wir bekräftigen unsere Solidarität mit allen von Antisemitismus und Rassismus betroffenen Menschen.
Vor einem Jahr, am 7. Oktober bekam der Krieg im Nahen Osten eine neue Dynamik, die sich im Laufe zu einem tiefen Riss durch die weltweite Gesellschaft entwickelt hat. Wir positionierten uns damals bereits kurz nach dem Angriff mit den Worten: „Die Taten der Hamas sind Teil einer reaktionären, teils antisemitischen militärischen Strategie, die wir vehement verurteilen. Angriffe auf und das wahllose Töten von Zivilist:innen sind nicht zu rechtfertigen. Die von der Hamas praktizierte Form des „nationalen Befreiungskampfes“ schafft keine Perspektive für ein solidarisches Zusammenleben der Menschen in Israel und Palästina.“
Auf der einen Seite steht der 7.10.23 für einen der größten Angriffe auf israelisches Leben ausgehend von der radikal-islamistischen Hamas. Der brutale Terrorakt bei dem über 1.200 israelische Zivilist:innen und Militärs von der Hamas ermordet oder im Kugelhagel der IDF starben und Hunderte als Geiseln verschleppt wurden, markierte einen grausamen Wendepunkt. Der Angriff auf unschuldige Zivilist:innen ist durch nichts zu rechtfertigen. Wir lehnen daher heute genauso wie damals jeden Versuch, auch von linken Kräften ab, der versucht, dieses wahllose Töten als Befreiungsakt zu bezeichnen.
Auf der anderen Seite markiert dieser Tag den Beginn einer neuen Dimension der Gewalt seitens der extrem rechten israelischen Regierung mit zehntausenden Toten und Unmengen an Kriegsverbrechen in gleich mehreren Ländern des Nahen Ostens. Ebenso zerstörte er zugleich die von den verschiedenen israelischen Regierungen genährte Illusion, dass es möglich sei, eine Politik der Besatzung und Unterdrückung für immer fortzusetzen: Ohne Gerechtigkeit für Palästinenser:innen und Israelis kann es keinen Frieden geben!
Die eine Wahrheit gibt es nicht
Die Einsicht, dass mehrere Wahrheiten nebeneinander existieren können, sogar müssen, wird umso notwendiger:
o Die Hamas hat den massivsten antisemitischen Anschlag seit der Shoah verübt. Nicht nur antisemitisch, sondern auch einen Anschlag auf freiheitliche und emanzipatorische Werte (auf ein Musikfestival, auch wenn dieser nicht als solcher geplant war, und auf basisdemokratisch und fortschrittlich organisierte Kibuze)
o Die nächste Wahrheit ist, dass es diesen Angriff ohne die jahrelange Unterdrückung und Vertreibung der Palästinenser:innen so wahrscheinlich nie gegeben hätte.
o Auch eine Wahrheit ist, dass es der Regierung Netanjahus als Anlass gelegen kam und sie den Angriff walten ließen, um ihren schon länger gehegten Plan durchzusetzen, die Gebiete im Gaza-Streifen zu annektieren oder zu zerstören.
o Und die Wahrheit, dass der deutschen Regierung die Opfer auf palästinensischer Seite offenbar weniger wert sind und dass Israels Regierung momentan eine existenzielle Bedrohung für seine Nachbarländer darstellt.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es eine erschreckende Wissenslücke, auch unter Linken, in Bezug auf Antisemitismus gibt. Antisemitismus umfasst in seinen Ausführungen mehr als nur „der böse Jude“. Antisemitische Narrative sind ein reelles Problem auch innerhalb einer pro-palästinensischen Protestbewegung.
Dies in Gänze als Vorwurf zu verpacken, wäre aus unserer Sicht jedoch der falsche Weg. Doch wer aus Unwissenheit antisemitische Narrative nutzt oder stärkt, der muss sich mindestens mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, sich selbst nicht ausreichend damit beschäftigt zu haben.
Die begründete Wut auf die israelische Regierung, die derzeit im Nahen Osten einen Völkermord begeht, und auf seine Unterstützer:innen, darf niemals dazu führen, dass sich der Hass auf jene (jüdischen) Menschen überträgt, die damit nichts zu tun haben.
Der Hass und die Repression darf sich genauso wenig auf jene Menschen richten, die ihre berechtigte Kritik am Vorgehen Israels und ihren Protest gegen die genozidalen Aussagen der israelischen Regierung auf die Straße tragen und das massenhafte Morden Israels anprangern. Denn wer auf der anderen Seite aus linker Perspektive „Solidarität mit der israelischen Regierung“ fokussiert, dem sind linke Werte ebenfalls abhandengekommen.
Niemals darf ein positiver Bezugspunkt von emanzipatorischer Politik eine extrem-rechte und mörderische Regierung sein. Niemals darf ein Bezugspunkt eine radikal-islamistische und antisemitische Ideologie sein.
Der Feind steht immer rechts – egal auf welcher Seite.
Die deutsche Doppelmoral
Menschen sehen sich regelmäßig dem Antisemitismusvorwurf ausgesetzt, wenn sie sich aktiv in die politische Debatte einmischen und dabei die Regierung Israels kritisieren. Oder wenn sie in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen zu Ergebnissen kommen, die nicht als Rechtfertigung Israels oder der Politik des Westens taugen. Das zeigt sich in Kampagnen gegen Lehrer:innen, in erzwungenen Rücktritten einer Hochschuldekanin in Niedersachsen, der Entlassung von Lehrkräften, der Aberkennung von Lehraufträgen, in verhinderten Preisverleihungen und Ausstellungen. Veranstaltungen, die sich dem Thema Palästina widmen, werden zuerst auf ihren antisemitischen Inhalt abgeklopft, Teilnehmer:innenlisten nach den Namen verdächtiger Personen durchsucht. Organisatoren erhalten Absagen bereits gemieteter Räumlichkeiten. Deutschland, das sich als Weltmeister im Kampf gegen Antisemitismus präsentiert und den Anspruch erhebt, damit in aller Welt verbindliche Ansprüche zu formulieren, hat jedoch natürlich kein Problem mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan. Er kann seine offensichtlich antisemitischen Ansichten zu Israel unbeschadet hinausposaunen, da er von Deutschland und der NATO als wichtiger Partner gebraucht wird.
Es kann auch der stellvertretende Ministerpräsident Bayens Hubert Aiwanger im Amt bleiben, dessen Posten auf der Kippe stand, als 2023 bekannt wurde, dass er Verfasser eines antisemitischen Flugblattes war.
Auf der anderen Seite werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft Widerspruch und Kritik zu ersticken, die sich nicht auf die seit Oktober 2023 festgelegte Definition der Staatsräson einnorden lassen.Menschen und Gruppen, die sich schon lange vor 2023 gegen Rassismus und Antisemitismus engagiert haben werden diskreditiert, ja sogar Jüd:innen selbst.
Keine Diskussion darüber, warum die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano es für konsequent hielt, neben ihrem Engagement gegen den Faschismus in Deutschland und für die Wachhaltung der Erinnerung an den NS-Völkermord, die Vertreibung der Palästinenser abzulehnen und sich für deren Rechte einzusetzen: „Es ist besonders wichtig, dass jeder in Deutschland, in dem ein menschliches Herz schlägt, endlich erkennt, dass Kritik an der Politik Israels nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen ist. Ich habe nicht das Vernichtungslager Auschwitz, das KZ Ravensbrück und den Todesmarsch überlebt, um von sogenannten Antideutschen und Konsorten als ›Antisemitin‹ beschimpft zu werden.«
Was bleibt?
Ohne den Sturz der israelischen Regierung und ohne den gemeinsamen Kampf von jüdischen und arabischen Menschen für den sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und das Ende der Besatzung wird dieser Krieg immer schlimmere Auswirkungen auf die Menschen haben – vorwiegend auf die in Gaza/Palästina und Libanon, aber auch auf die in Israel, Iran, Jemen und Syrien.
Als Teil einer fortschrittlichen Linken in Deutschland muss unser Hauptfokus die Aufklärung über die Kriegsverbrechen und der Kampf für den Stopp von Waffenlieferungen sein – egal ob nach Israel oder Saudi-Arabien. Die Forderung nach einem Waffenstillstand und der Freilassung aller Geiseln ist unser Mindestmaß!
Der Schutz der Meinungsfreiheit, derzeit vor allem für Menschen, die sich pro-palästinensisch äußern und das Hineinwirken in eben jene Bewegungen und das Zurückdrängen rückständiger Kräfte darin erweitern unseren Aufgabenkreis.
Für ein Ende des Kriegs und die Freilassung aller Geiseln.
Für einen konsequenten Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus.
Für ein freies Palästina und den Frieden unter den Völkern!
Ein Jahr später – es bleibt dabei: Vereint gegen Rassismus und Antisemitismus – ceasefire now!
Erstellt am