Am 21. Januar 1924 starb Lenin, nur zwei Jahre nach dem Sieg der bewaffneten Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern über die Truppen der Zarenanhänger, über die Truppen der Fabrikbesitzer und über die Truppen aus den USA, aus Japan, aus Großbritannien, aus Frankreich und weiteren Ländern, die die Revolution in Blut ersticken wollten. Lenin konnte nur zwei Jahre, geschwächt durch ein Attentat und einen Schlaganfall, in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken wirken – zwei Jahre, die dem Aufbau des Sozialismus und der Unterstützung der antikolonialen und revolutionären Bewegungen weltweit gewidmet waren.
Über die Bewertung der Entwicklung der Sowjetunion nach Lenins Tod herrscht Uneinigkeit unter den Sozialist:innen und Kommunist:innen. Einigkeit besteht aber darin, dass es der revolutionären Theorie und Praxis bedarf, um den Kapitalismus zu überwinden und den Sozialismus aufzubauen, und dass es dafür der revolutionären Organisationen bedarf. Lenins Leben ist mit allen drei Elementen eng verbunden gewesen und auch heute kann Lenins damaliges Denken und Handeln eine Reihe von Anregungen für den aktuellen Kampf um die Zukunft geben.
Wir wollen deshalb Lenin selbst zu Wort kommen lassen. Am 22. Januar 1917 sprach Lenin in in seinem Schweizer Exil auf einer Veranstaltung der sozialistischen Arbeiterjugend über die Russische Revolution von 1905:
„Jugendgenossen, Parteigenossen und -genossinnen!
Wir feiern heute den zwölften Jahrestag des „blutigen Sonntags“, der mit Recht als Beginn der russischen Revolution betrachtet wird. Tausende von Arbeitern – wohlgemerkt keine Sozialdemokraten, sondern religionsfromme, kaiserfromme Leute – unter der Führung des Priesters Gapon gehen von allen Stadtteilen aus zum Zentrum der Hauptstadt, zum Platze vor dem Winterpalast, um dem Zaren eine Petition zu überreichen. Die Arbeiter gehen mit Heiligenbildern, und ihr damaliger Führer Gapon versicherte dem Zaren schriftlich, er bürge ihm für die Unverletzlichkeit seiner Person und bitte ihn, vor dem Volke zu erscheinen.
Das Militär wird aufgeboten. Ulanen und Kosaken greifen die Menge mit der blanken Waffe an, es wird geschossen gegen die waffenlosen Arbeiter, die auf den Knien die Kosaken anflehten, sie zum Kaiser zulassen. Nach polizeilichen Mitteilungen gab es mehr als tausend Tote, mehr als zweitausend Verwundete. Die Erbitterung der Arbeiter war unbeschreiblich.
Das ist das allgemeine Bild des 22. Januar 1905, des blutigen Sonntags. Um Ihnen die geschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses anschaulicher zu machen, werde ich einige Stellen aus der Arbeiterpetition verlesen. Die Petition beginnt folgendermaßen:
Wir Arbeiter, Bewohner von Petersburg, kommen zu Dir. Wir sind elende, beschimpfte Sklaven, und erstickt von Despotismus und Willkür. Als die Grenze der Geduld erreicht war, stellten wir die Arbeit ein und baten unsere Herren, uns nur das zu geben, ohne das das Leben eine Qual ist. Aber alles wurde abgelehnt, alles ist nach der Meinung der Fabrikanten ungesetzlich. Wir hier, viele Tausende, sowie das ganze russische Volk, haben keine Menschenrechte. Durch Deine Beamten sind wir Sklaven geworden.“ Die Petition zählt die Forderungen auf: Amnestie, öffentliche Freiheiten, den Normalarbeitslohn, die allmähliche Übergabe des Grund und Bodens an das Volk, die Einberufung einer Konstituante auf Grund von allgemeinen und gleichen Wahlen, und schließt mit den Worten:
„Kaiser! Hilf Deinem Volke! Vernichte die Scheidewand zwischen Dir und dem Volke! … Befiehl die Erfüllung unserer Bitten, und Du machst Rußland glücklich; wenn nicht, so sterben wir hier. Wir haben nur zwei Wege: Freiheit und das Glück oder das Grab.“
Es wird einem eigentümlich zumute, wenn man jetzt diese Petition der ungebildeten, analphabetischen, von einem patriarchalischen Priester geführten Arbeiter liest. Unwillkürlich drängt sich die Parallele auf zwischen dieser naiven Petition und den heutigen Friedensresolutionen der Sozialpazifisten, d.h. Leuten, die Sozialisten sein wollen und die in Wirklichkeit nur bürgerliche Phraseure sind. Die ungebildeten Arbeiter des vorrevolutionären Rußlands wußten nicht, daß der Zar das Haupt einer herrschenden Klasse ist, nämlich der Großgrundbesitzer, die schon durch tausend Fäden mit der Großbourgeoisie verkoppelt sind und die ihre Monopole, Privilegien und Gewinne mit allen Mitteln der Gewalt zu schützen entschlossen sind. Die heutigen Sozialpazifisten, die für „hochgebildete“ Leute – Scherz beiseite! – gelten wollen, wissen nicht, daß von den bürgerlichen Regierungen, die den imperialistischen, den Raubkrieg führen, einen „demokratischen“ Frieden zu erwarten ebenso dumm ist wie der Gedanke, man könne mit friedlichen Petitionen den Blutzaren zu demokratischen Reformen bewegen.
Der große Unterschied bei alledem ist der, daß die heutigen Sozialpazifisten zu einem geraumen Teil Heuchler sind, die das Volk durch gütliches Zureden vom revolutionären Kampfe ablenken wollen, während die ungebildeten russischen Arbeiter des vorrevolutionären Rußlands durch ihre Taten bewiesen haben, daß sie aufrichtige Leute waren, die zum ersten Male zum politischen Bewußtsein erwachten.
Eben in diesem Erwachen der ungeheuren Volksmassen zum politischen Bewußtsein und zu revolutionärem Kampfe besteht die geschichtliche Bedeutung des 22. Januar 1905.
“Es gibt noch kein revolutionäres Volk in Rußland“ – so hat zwei Tage vor dem „blutigen Sonntag“ der damalige Führer der russischen Liberalen geschrieben, Herr Peter Struve, der damals ein illegales, freies, ausländisches Organ herausgab. So absurd erschien diesem „hochgebildeten“, hochnäsigen und hochdummen Führer der bürgerlichen Reformisten die Idee, daß ein analphabetisches Bauernland ein revolutionäres Volk gebären kann! So fest waren die damaligen – ganz wie die heutigen – Reformisten davon überzeugt, daß eine wirkliche Revolution unmöglich sei!
Vor dem 22. (nach der russischen Zeitrechnung 9.) Januar 1905 bestanden die revolutionären Parteien Rußlands aus einem kleinen Häuflein von Leuten – eine „Sekte“ beschimpften uns die damaligen (ganz wie die heutigen!) Reformisten. Einige Hundert revolutionäre Organisatoren, einige Tausend Mitglieder der Lokalorganisationen, ein halbes Dutzend nicht öfter als monatlich erscheinender revolutionärer Blätter – die hauptsächlich im Auslande publiziert waren und mit enormen Schwierigkeiten und Opfern nach Rußland hineingeschmuggelt waren – das waren die revolutionären Parteien Rußlands und die revolutionäre Sozialdemokratie an ihrer Spitze vor dem 22. Januar 1905. Das gab den ebenso bornierten wie hochmütigen Reformisten das formelle Recht, zu behaupten, es gebe noch kein revolutionäres Volk in Rußland.
In einigen Monaten sah es vollständig anders aus! Hunderte revolutionäre Sozialdemokraten wuchsen „plötzlich“ zu Tausenden an, Tausende wurden zu Führern von 2 bis 3 Millionen Proletariern. Der proletarische Kampf erzeugte eine große Gärung, teilweise eine revolutionäre Bewegung, innerhalb der Masse von 50 bis 100 Millionen Bauern, die Bauernbewegung erzeugte Sympathie im Heere und führte zu Militäraufständen, zu bewaffneten Kämpfen eines Teiles des Heeres gegen einen anderen Teil. So geriet das ungeheure Land mit 130 Millionen Einwohnern in die Revolution, so ist aus dem schlafenden Rußland das Rußland des revolutionären Proletariats und des revolutionären Volkes entstanden.
Diesen Übergang gilt es zu studieren, seine Möglichkeit, seine sozusagen Methoden oder Wege gilt es zu begreifen. Das wichtigste Mittel dieses Übergangs war der Massenstreik. Die Eigentümlichkeit der russischen Revolution besteht eben darin, daß sie nach ihrem sozialen Inhalte eine bürgerlich-demokratische, nach ihren Kampfesmitteln aber eine proletarische war. Sie war bürgerlich-demokratisch, weil das, was sie unmittelbar erstrebte und unmittelbar, mit ihren eigenen Kräften, erreichen konnte, die demokratische Republik, Achtstundentag, Konfiskation des enormen Großgrundbesitzes der Adligen war – alles Maßnahmen, die die bürgerliche Revolution in Frankreich in den Jahren 1792 und 1793 zum großen Teil verwirklicht hat.
Die russische Revolution war gleichzeitig eine proletarische nicht nur in dem Sinne, daß das Proletariat die führende Kraft, die Avantgarde der Bewegung darstellte, sondern auch in dem Sinne, daß das spezifisch proletarische Kampfesmittel, nämlich der Streik, das Hauptmittel der Aufrüttelung der Massen und das am meisten Charakteristische im wellenmäßigen Gang der entscheidenden Ereignisse bildete.
Die russische Revolution ist die erste – sie wird sicher nicht die letzte – große Revolution in der Weltgeschichte sein, in der der politische Massenstreik eine ungemein große Rolle spielte. Ja, man kann nicht einmal die Vorgänge der russischen Revolution, den Wechsel ihrer politischen Formen verstehen, ohne die Grundlage dieser Vorgänge und dieses Wechsels in der Statistik der Streiks zu suchen.
Ich weiß sehr wohl, wie ungeeignet die trockenen statistischen Zahlen zu einem mündlichen Vortrag sind, wie sie die Zuhörer abschrecken können. Ich kann aber nicht umhin, Ihnen ein paar abgerundete Zahlen mitzuteilen, damit Sie die wirkliche, objektive Grundlage der ganzen Bewegung würdigen können. Die jährliche Durchschnittszahl der Streiken- den in Rußland während zehn Jahren vor der Revolution war 43.000. Also die Gesamtsumme der Streikenden in einem ganzen Jahrzehnt vor der Revolution – 430.000. Im Januar 1905, in dem ersten Monat der Revolution, war die Zahl der Streikenden 440.000. Also in einem einzigen Monat mehr als im ganzen verflossenen Jahrzehnt!
In keinem kapitalistischen Lande der Welt – selbst in den vorgeschrittensten Ländern so wie England, den Vereinigten Staaten Amerikas, Deutschland – hat die Welt je eine so große Streikbewegung erlebt wie in Rußland im Jahre 1905. Die Gesamtzahl der Streikenden war 2 Millionen 800 Tausend, mehr als anderthalb mal so groß wie die Gesamtsumme der Fabrikarbeiter! Das beweist natürlich nicht, daß die städtischen Fabrikarbeiter in Rußland gebildeter oder stärker oder kampfesfähiger waren als ihre Brüder in Westeuropa. Das Gegenteil davon ist wahr.
Das beweist aber, wie groß die schlummernde Energie des Proletariats überhaupt sein kann. Das beweist, daß in einer revolutionären Periode das Proletariat eine – ich sage es ohne jegliche Übertreibung, auf Grund der genauesten Daten der russischen Geschichte – eine hundertmal größere Kampfeskraft entwickeln kann als zu gewöhnlichen, ruhigen Zeiten. Das beweist, daß die Menschheit bis zum Jahre 1905 noch nicht gewußt hat, wie enorm, wie großartig die Steigerung der Kräfte des Proletariats sein kann und sein wird, wenn es gilt, wirklich um große Ziele, wirklich revolutionär zu kämpfen!
Die Geschichte der russischen Revolution zeigt uns, daß es eben die Avantgarde, die Elite der Lohnarbeiterschaft gewesen ist, die mit größter Zähigkeit und mit größtem Opfermut den Kampf führte. Je größer der Umfang der Fabriken, desto ausdauernder waren die Streiks, desto öfter die Fälle der Wiederholung der Streiks in einem und demselben Jahre. Je größer die Stadt, desto höher die Rolle des Proletariats im Kampfe. Drei große Städte, die die intelligenteste und zahlreichste Arbeiterschaft besitzen, nämlich Petersburg, Riga und Warschau, zeigen eine ungemein höhere Zahl der Streikenden im Verhältnis zur Gesamtzahl der Arbeiter als alle anderen Städte, geschweige das platte Land.
Die Metallarbeiter stellen in Rußland – wie wohl auch in anderen kapitalistischen Ländern – die Avantgarde des Proletariats. Und da sehen wir folgende lehrreiche Tatsache: jedes Hundert von Fabrikarbeitern in Rußland im allgemeinen stellte im Jahre 1905 – 160 Streikende. Demgegenüber stellte jedes Hundert von Metallarbeitern in demselben Jahre – 320 Streikende! Man hat ausgerechnet, daß ein jeder russische Fabrikarbeiter im Durchschnitt im Jahre 1905 10 Rubel – etwa 26 Franken nach dem Kurse vor dem Kriege – Verlust infolge der Streiks erlitten, sozusagen dem Kampfe geopfert hat. Nehmen wir aber die Metallarbeiter allein, dann bekommen wir eine dreimal so hohe Summe! Die besten Elemente der Arbeiterklasse gingen voran, die Zögernden hinreißend, die Schlafenden erweckend, die Schwachen ermutigend.
Ganz eigenartig war die Verflechtung der ökonomischen und der politischen Streiks während der Revolution. Kein Zweifel, erst der innigste Zusammenhang dieser beiden Formen der Streiks hat die große Kraft der Bewegung verbürgt. Die breite Masse der Ausgebeuteten würde man nie in eine revolutionäre Bewegung hineinreißen können, wenn diese Masse nicht täglich vor sich Beispiele zu sehen bekäme, wo die Lohnarbeiter verschiedenster Branchen unmittelbare, sofortige Verbesserungen ihrer Lage von den Kapitalisten erzwängen. Ein neuer Geist kam durch diesen Kampf in die ganze Masse des russischen Volkes. Erst jetzt wurde der alte Adam des leibeigenen, bärenhäuterischen, patriarchalischen, frommen, gehorsamen Rußlands wirklich ausgezogen; erst jetzt bekam das russische Volk eine wirklich demokratische, wirklich revolutionäre Erziehung. Wenn die bürgerlichen Herrschaften und ihre kritiklosen Nachtreter, die sozialistischen Reformisten, von der „Erziehung“ der Massen mit so viel Wichtigtuerei sprechen, dann meinen sie gewöhnlich etwas Schulmeisterliches, Pedantisches, die Massen Demoralisierendes, ihnen die bürgerlichen Vorurteile Einimpfendes.
Die wirkliche Erziehung der Massen kann niemals getrennt vom und außerhalb vom selbständigen politischen und besonders revolutionären Kampfe der Masse selbst geschehen. Erst der Kampf erzieht die ausgebeutete Klasse, erst der Kampf gibt ihr das Maß ihrer Kräfte, erweitert ihren Horizont, steigert ihre Fähigkeit, klärt ihren Verstand auf, stählt ihren Willen. Und deshalb waren selbst die Reaktionäre anzuerkennen gezwungen, daß das Kampfesjahr 1905, das „tolle Jahr“, das patriarchalische Rußland definitiv zu Grabe getragen hat.
Betrachten wir näher das Verhältnis der Metallarbeiter und der Textil- arbeiter in Rußland während ihrer Streikkämpfe im Jahre 1905. Die Metallarbeiter sind die bestbezahlten, intelligentesten, kulturell am höchsten stehenden Proletarier. Die Textilarbeiter, deren Zahl in Rußland im Jahre 1905 mehr als zweieinhalbmal so groß war als die der Metallarbeiter, bilden die rückständigste Masse, die schlechtest bezahlte, die noch vielfach ihre Verbindung mit ihren Bauernfamilien auf dem Lande nicht definitiv gelöst haben. Und da sehen wir folgende sehr wichtige Tatsache:
Die Metallarbeiterstreiks zeigen uns während des ganzen Jahres 1905 das Übergewicht der politischen Streiks über die ökonomischen, namentlich am Ende des Jahres. Demgegenüber sehen wir bei den Textilarbeitern am Anfange des Jahres 1905 ein sehr großes Übergewicht der ökonomischen Streiks, das sich nur am Ende des Jahres in das Übergewicht der politischen Streiks umwandelt. Es ist also klar, daß nur der ökonomische Kampf, nur der Kampf um sofortige, unmittelbare Verbesserungen ihrer Lage die zurückgebliebensten Schichten der ausgebeuteten Masse aufzurütteln vermag, ihnen wirkliche Erziehung gibt und – in einer Revolutionsepoche – während weniger Monate aus ihnen eine Truppe politischer Kämpfer bildet.
Dazu war auch natürlich nötig, daß die Vortruppen der Arbeiterschaft unter dem Klassenkampf nicht den Kampf für die Interessen einer kleinen Oberschicht verstehen – wie es die Reformisten allzuoft den Arbeitern vortäuschen – sondern daß die Proletarier wirklich als Avantgarde der Mehrheit der Ausgebeuteten auftreten, diese Mehrheit selbst in den Kampf hineinreißen, wie es in Rußland 1905 geschehen ist und wie es zweifelsohne in der kommenden proletarischen Revolution in Europa geschehen muß und geschehen wird.
Der Anfang des Jahres 1905 brachte die erste große Welle der Streikbewegung im ganzen Lande. Schon im Frühling dieses Jahres sehen Wir das Erwachen der ersten großen, nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Bauernbewegung in Rußland. Was für epochemachende Bedeutung dieser Umschwung hat, das wird nur der verstehen können, der sich vergegenwärtigt, daß die Bauernschaft in Rußland erst im Jahre 1861 die schlimmste Leibeigenschaft losgeworden ist, daß die Bauern meistens Analphabeten sind, in furchtbarer Not, durch Großgrundbesitzer erdrückt, durch Pfaff en verdummt, durch die enormen Distanzen und fast vollständige Wegelosigkeit isoliert leben.
Zum ersten Male hat Rußland im Jahre 1825 eine revolutionäre Bewegung gegen den Zarismus gesehen, und diese Bewegung war fast ausschließlich durch die Adligen vertreten. Seitdem und bis zum Jahre 1881, als Alexander der Zweite durch die Terroristen hingerichtet wurde, sind die Intellektuellen aus dem Mittelstand an die Spitze der Bewegung getreten. Sie haben den höchsten Opfermut entwickelt und die ganze Welt durch ihre heldenhafte terroristische Methode des Kampfes in Erstaunen gesetzt. Sicher fielen diese Opfer nicht umsonst, sicher haben sie – sowohl in direkter als auch in indirekter Weise – zur späteren revolutionären Erziehung des russischen Volkes beigetragen. Aber ihr unmittelbares Ziel, das Erwachen einer Volksrevolution, haben sie nicht erreicht und nicht erreichen können.
Erst dem revolutionären Kampfe des Proletariats ist es gelungen. Erst die Wellen des Massenstreiks, indem sie über das ganze Land gingen, im Zusammenhange mit den grauenhaften Lehren des imperialistischen russisch-japanischen Krieges, haben die breite Masse der Bauernschaft aus ihrer Lethargie geweckt. Das Wort „Streiker“ hat bei den Bauern eine neue Bedeutung bekommen: es hieß annähernd so etwas wie Rebell, Revolutionär, was früher durch das Wort „Student“ ausgedrückt wurde. Während aber der „Student“ dem Mittelstande angehörte, den „studierten“ Leuten, den „Herrschaften“ angehörte, entfremdete er sich dem Volke. Der „Streiker“, der kam selbst aus dem Volke, der gehörte selbst zu den Ausgebeuteten, der kam so oft aufs Land, aus Petersburg ausgewiesen, und erzählte den Dorfgenossen von der Feuersbrunst, die die Städte ergriffen hat und die sich gegen die Adligen sowohl wie gegen die Kapitalisten richtete. Ein neuer Typus erschien im russischen Dorfe, der junge Bauer, ein sogenannter „Bewußter“. Er verständigte sich mit den „Streikern“, er las Zeitungen und erzählte den Bauern die Ereignisse in den Städten, er klärte die Dorfgenossen über die Bedeutung der politischen Forderungen auf, er spornte sie zum Kampfe gegen die adeligen Großgrundbesitzer, gegen die Pfaffen und die Beamten an.
Die Bauern versammelten sich in Gruppen, besprachen ihre Lage und griffen allmählich zum Kampfe: in Scharen zogen sie gegen die Großgrundbesitzer, zündeten ihre Paläste und herrschaftlichen Häuser an oder plünderten ihre Vorräte, nahmen Getreide und andere Lebensmittel, setzten die Polizeibeamten ab, forderten die Übergabe des Grund und Bodens, der ungeheuren Latifundien der Adligen an das Volk.
Im Frühling 1905 war die Bauernbewegung noch in ihrem Anfange, sie ergriff nur die Minderheit der Distrikte, nämlich annähernd nur ein Siebtel der Distrikte. Aber die Vereinigung des proletarischen Massenstreiks in den Städten mit der Bauernbewegung auf dem Lande genügte schon, um auch die „festeste“ und die letzte Stütze des Zarismus ins Schwanken zu bringen. Ich meine die Armee.
Es beginnen Militäraufstände in der Marine sowohl wie im Heere. Alle großen Wellenaufstiege der Streikbewegung und der Bauernbewegung während der Revolution sind von Militäraufständen in allen Teilen Rußlands begleitet. Wohl der berühmteste dieser Aufstände ist die Meuterei des Schlachtschiffes Fürst Potemkin in der Schwarzmeerflotte, das in die Hände der Aufständischen geriet, an der Revolution in Odessa teilgenommen hat und sich nach der Niederlage dieser Revolution sowohl wie nach den mißlungenen Versuchen, andere Häfen (z.B. Feodossia in der Krim) zu erobern, den rumänischen Behörden in Konstanza übergeben hat.
Eine kleine Szene aus dieser Rebellion der Schwarzmeerflotte gestatten Sie mir wohl, Ihnen ausführlich zu beschreiben, damit Sie ein konkretes Bild von den Vorgängen auf dem höchsten Punkte der Bewegung haben können:
“Die Zusammenkünfte revolutionärer Arbeiter und Matrosen wurden organisiert; sie wurden immer häufiger. Da Militärpersonen zu den Arbeitermeetings nicht zugelassen wurden, begannen die Arbeiter in Massen die Soldatenmeetings zu besuchen. Man kam zu Tausenden zusammen. Die Idee des gemeinschaftlichen Vorgehens fand begeisterte Aufnahme. In den fortschrittlichen Kompanien wurden Delegierte gewählt.Nunmehr hielten es die Militärbehörden an der Zeit, einzuschreiten. Die Versuche einzelner Offiziere, in den Meetings „patriotische“ Reden zu halten, ergaben die kläglichsten Resultate: die in Diskussionen geübten Matrosen schlugen ihre Vorgesetzten in schmähliche Flucht. Nach Fehlschlagen dieses Mittels wurde beschlossen, die Meetings überhaupt zu untersagen. Am Morgen des 24. November 1905 wurde vor den Toren der Marinekaserne eine Kampfkompanie in voller Ausrüstung aufgestellt. Der Konteradmiral Pissarewski erteilte allen vernehmbar den Befehl: „Niemand aus den Kasernen hinauslassen! Im Falle der Gehorsamsverweigerung – schießen!“ Aus der Kompanie, an die dieser Befehl gerichtet war, trat der Matrose Petrow vor, lud vor den Augen aller sein Gewehr, tötete mit dem einen Schuß den Oberstleutnant Stein vom Belostoker Regiment und verwundete mit dem zweiten den Konteradmiral Pissarewski. Es erscholl das Kommando des Offiziers: „Verhaftet ihn!“ Niemand rührte sich von der Stelle. Petrow warf sein Gewehr zu Boden. „Warum steht ihr denn? Nehmt mich doch fest!“ Er wurde verhaftet. Die von allen Seiten herbeigeströmten Matrosen forderten stürmisch seine Freilassung, indem sie erklärten, daß sie für ihn Bürgschaft leisteten. Die Erregung hatte den Höhepunkt erreicht.– „Petrow, der Schuß ist dir ganz zufällig losgegangen?“ – fragte ihn der Offizier, um sich einen Ausweg zu schaffen.– „Ach was zufällig! Wenn man vortritt, ladet und anlegt, ist das etwa zufällig?“– „Die Mannschaften fordern deine Freilassung“Und Petrow wurde freigelassen. Die Matrosen wollten dabei nicht stehenbleiben. Alle diensthabenden Offiziere wurden verhaftet, entwaffnet und in die Kanzlei abgeführt. … Die Delegierten der Matrosen, etwa 40 Mann, konferierten die ganze Nacht hindurch. Es wurde beschlossen, die Offiziere zu enthaften, sie aber nicht mehr in die Kasernen einzulassen.”
Dieses kleine Bild illustriert Ihnen, wie sich die Vorgänge in den meisten Militäraufständen abspielten. Die revolutionäre Gärung im Volke konnte nicht umhin, auch das Militär zu ergreifen. Namentlich die Elemente der Kriegsmarine und des Heeres, die am meisten aus der industriellen Arbeiterschaft rekrutiert waren, die am meisten technische Vorbildung erheischten, z.B. die Sappeurs, stellten die Führer der Bewegung. Aber die große Masse war noch zu naiv, zu friedlich, zu gutmütig, zu christlich gestimmt. Sie loderte ziemlich leicht empor, jeder Fall von Ungerechtigkeit, zu schroffes Verhalten der Offiziere, schlechte Kost usw. konnte die Empörung hervorrufen. Aber die Ausdauer fehlte, es mangelte an klarem Bewußtsein der Aufgabe, man verstand nicht, daß nur das energischste Fortführen des bewaffneten Kampfes, nur der Sieg über alle militärischen und zivilen Behörden, nur die Niederwerfung der Regierung und Besitzergreifung der Macht im ganzen Staate die einzige Bürgschaft des Erfolges der Revolution sein konnte.
Die große Masse der Matrosen und der Soldaten empörte sich leicht, aber ebenso leicht machte sie die naive Dummheit, die verhafteten Offiziere wieder zu enthaften, sie ließ sich durch Versprechungen und Überredungen der Behörden zur Beruhigung bewegen – die Behörden gewannen so die kostbare Zeit, riefen Verstärkungen hinzu, zerklüfteten die Kräfte der Aufständischen, und schließlich kam immer die grausamste Unterdrückung und Hinrichtung der Führer.
Es ist besonders interessant, die Militäraufstände in Rußland im Jahre 1905 mit dem Militäraufstand der Dekabristen im Jahre 1825 zu vergleichen. Damals waren es fast ausschließlich die Offiziere, und namentlich die adligen Offiziere, die, durch Berührung mit den demokratischen Ideen Europas während der Napoleonischen Kriege infiziert, die politische Bewegung leiteten. Die Masse der Soldaten, die damals noch aus leibeignen Bauern bestand, verhielt sich passiv.
Das gerade Gegenteil davon zeigt uns die Geschichte des Jahres 1905. Die Offiziere waren, mit wenigen Ausnahmen, entweder bürgerlich-liberal, reformistisch, oder aber direkt konterrevolutionär gestimmt. Die Arbeiter und die Bauern im Soldatenrock bildeten die Seele der Aufstände: die Bewegung wurde volkstümlicher, sie ergriff zum ersten Male in der Geschichte Rußlands die Mehrheit der Ausgebeuteten. Was fehlte, das war einerseits die Ausdauer, die Entschlossenheit der Massen, die zuviel an Vertrauensduselei litten, andererseits aber die Organisation der revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter im Militärrock, die zuwenig verstanden haben, die Leitung in ihre Hände zu nehmen, sich an die Spitze der revolutionären Armee zu stellen und offensiv gegen die Regierungsgewalt vorzugehen.
Nebenbei sei bemerkt, diese beiden Mängel werden nicht nur durch die allgemeine Entwicklung des Kapitalismus, sondern auch durch den jetzigen Krieg – vielleicht langsamer, als wir es wünschen, aber mit Sicherheit – aus der Welt geschafft …
Jedenfalls gibt uns die Geschichte der russischen Revolution sowie auch die Geschichte der Pariser Kommune im Jahre 1871 die unabweisbare Lehre, daß der Militarismus nie und keinesfalls auf irgendwelche andere Art und Weise überwunden und abgeschafft werden kann als durch den siegreichen Kampf eines Teils des Volksheeres gegen den anderen Teil. Es genügt nicht, den Militarismus zu verwünschen, zu verfluchen, „abzulehnen“, seine Schädlichkeit mit der Kritik der Argumente zu beweisen, es ist dumm, den Dienst friedlich zu verweigern – es gilt, das revolutionäre Bewußtsein des Proletariats wachzuhalten, und zwar nicht nur im allgemeinen, sondern auch seine besten Elemente im konkreten dazu vorzubereiten, im Momente der höchsten Gärung im Volke sich an die Spitze der revolutionären Armee zu stellen.
Dasselbe lehrt uns die tagtägliche Erfahrung eines beliebigen kapitalistischen Staates. Jede „kleine“ Krise, die ein solcher Staat erlebt, zeigt uns im Kleinen die Elemente und die Keime der Kämpfe, die sich bei einer großen Krise unvermeidlich im Großen wiederholen müssen. Und was ist z.B. jeder Streik anderes als eine kleine Krise der kapitalistischen Gesellschaft? Hafte nicht der preußische Minister des Innern, Herr von Puttkamer, recht gehabt, als er den berühmten Ausspruch machte: „In jedem Streik lauert die Hydra der Revolution“? Beweist uns nicht das Militäraufgebot während der Streiks in allen, selbst den – mit Verlaub zu sagen: friedlichsten – und „demokratischsten“ kapitalistischen Ländern, wie es in wirklich großen Krisenzeiten aussehen wird?
Aber ich muß zur Geschichte der russischen Revolution zurück. Ich habe zu schildern versucht, wie die proletarischen Streiks das ganze Land und die breitesten, die rückständigsten Schichten der Ausgebeuteten aufgerüttelt haben, wie die Bauernbewegung begann, wie sie durch Militäraufstände begleitet wurde.
Im Herbst 1905 kam die gesamte Bewegung auf ihren Höhepunkt. Am 19. (6.) August erschien die Proklamation des Zaren über die Schaffung einer Reichsvertretung. Die sogenannte Bulyginsche Duma wurde geschaffen auf Grund des Wahlgesetzes, das nur eine lächerlich kleine Zahl von Wahlberechtigten schuf und diesem eigenartigen „Parlament“ keine gesetzgeberische, sondern nur beratende, konsultative Kraft verlieh!!
Die Bürgerlichen, die Liberalen, die Opportunisten waren bereit, das „Geschenk“ des erschrockenen Zaren mit beiden Händen zu ergreifen. Wie alle Reformisten, so haben auch unsere Reformisten im Jahre 1905 nicht verstehen können, daß es geschichtliche Situationen gibt, wo die Reformen und besonders die Versprechungen von Reformen den ausschließlichen Zweck verfolgen, die Gärung des Volkes zu beschwichtigen, die revolutionäre Klasse zu bewegen, ihren Kampf einzustellen oder mindestens zu schwächen.
Die revolutionäre Sozialdemokratie Rußlands hat den wahren Charakter dieser Oktroyierung, dieses Geschenks einer Scheinkonstitution im August 1905 recht gut verstanden. Und deshalb stellte sie, keinen Augenblick zögernd, die Parole auf: Fort mit der „beratenden“ Duma! Boykott der Duma! Nieder mit der zaristischen Regierung! Weiterführung des revolutionären Kampfes zum Zwecke, diese Regierung zu stürzen! Nicht der Zar, sondern die provisorische revolutionäre Regierung soll die erste, die wahre Volksvertretung in Rußland einberufen!
Und die Geschichte hat den revolutionären Sozialdemokraten insofern recht gegeben, als die Bulyginsche Duma niemals einberufen wurde. Der revolutionäre Sturm hat sie hinweggefegt, ehe sie zustande kam, er hat den Zaren gezwungen, ein neues Wahlgesetz mit erheblicher Vergrößerung der Wahlberechtigtenzahl, mit der Anerkennung des gesetzgeberischen Charakters der Duma zu erlassen.
Oktober und Dezember 1905 bezeichnen den Höhepunkt der aufsteigenden Linie der russischen Revolution. Alle Springquellen der revolutionären Kraft des Volkes öffneten sich mit viel größerer Weite als früher. Die Zahl der Streikenden, die im Januar 1905, wie ich Ihnen mitgeteilt hatte, 440000 ausmachte, überstieg im Oktober 1905 eine halbe Million, in einem einzigen Monat, wohlgemerkt! Und zu dieser Zahl, die nur Fabrikarbeiter berücksichtigt, muß man noch mehrere Hunderttausend Eisenbahnbeamte, Post- und Telegrafenangestellte u.dgl. mehr hinzufügen.
Der allgemeine russische Streik der Eisenbahnbeamten legte den Eisenbahnverkehr still und paralysierte die Regierungsgewalt am heftigsten. Die Türen der Universitäten wurden geöffnet, und die Konferenzsäle, die in ruhigen Zeiten ausschließlich dazu dienen, die jungen Köpfe durch die professorale Kathederweisheit zu betören und zu zahmen Dienern der Bourgeoisie und des Zarismus zu machen, dienten jetzt als Versammlungslokale für Tausende und Tausende Arbeiter, Handwerker, Dienstboten, die offen und frei politische Angelegenheiten besprachen.
Die Freiheit der Presse wurde erobert. Man hat die Zensur einfach beiseite geschoben. Kein Verleger wagte es mehr, den Behörden Pflichtexemplare zu liefern, und die Behörden wagten es nicht, dagegen einzuschreiten. Zum ersten Male in der russischen Geschichte erschienen revolutionäre Zeitungen frei in Petersburg und in anderen Städten. Es gab drei tägliche sozialdemokratische Zeitungen in Petersburg allein, mit Auflagen von 50.000 bis 100.000 Exemplaren.
Das Proletariat ging an der Spitze der Bewegung. Es hatte sich die Aufgabe gestellt, den Achtstundentag auf revolutionärem Wege zu erobern. Der Kampfruf des Petersburger Proletariats war damals: „Achtstundentag und Waffen!“ Es war nämlich für eine immer wachsende Zahl der Arbeiter klar, daß nur der bewaffnete Kampf über die Geschicke der Revolution entscheiden kann und entscheiden wird.
Eine eigentümliche Massenorganisation wurde im Feuer des Kampfes geschaffen: die berühmten Arbeiterdelegiertenräte, die Versammlungen von Delegierten aus jeder Fabrik. Und diese Arbeiterdelegiertenräte nahmen in mehreren Städten Rußlands mehr und mehr die Rolle der provisorischen revolutionären Regierung an, der Organe und der Leiter des Aufstandes. Es wurden Versuche gemacht, Soldaten- und Matrosendelegiertenräte zu schaffen und sie mit den Arbeiterdelegiertenräten zu vereinigen.
Manche Städte in Rußland erlebten in jenen Tagen die Epoche der verschiedenen lokalen und ganz kleinen „Republiken“, als die Regierungsgewalt abgesetzt wurde und der Arbeiterdelegiertenrat wirklich als neue Staatsmacht funktionierte. Leider waren es zu kurze Perioden und zu schwache, zu isolierte „Siege“.
Die Bauernbewegung nahm im Herbst 1905 größere Dimensionen an. Mehr als ein Drittel der Bezirke in dem gesamten Lande verzeichneten damals sogenannte „Bauernunruhen“ und direkte Bauernaufstände. Die Bauern haben zirka 2.000 Gutshöfe niedergebrannt und die Lebensmittel, von adligen Räubern dem Volke geraubt, unter sich verteilt.
Leider war es eine zuwenig gründliche Arbeit! Leider haben die Bauern damals nur etwa ein Fünfzehntel der Zahl der adligen Gutshöfe vernichtet, nur ein Fünfzehntel davon, was sie hätten vernichten sollen, um die Schmach des feudalen Großgrundbesitzes vom Angesichte des russischen Landes vollständig hinwegzufegen. Leider gingen auch die Bauern zu zersplittert, zu desorganisiert, zuwenig offensiv vor, und das war eine der Grundursachen der Niederlage der Revolution.
Die nationalbefreiende Bewegung unter den unterdrückten Völkern Rußlands loderte auf. In Rußland sind mehr als die Hälfte, fast drei Fünftel (genau: 57%) der Bevölkerung national unterdrückt, sie besitzen nicht einmal die Freiheit der Muttersprache, sie werden gewaltsam „russifiziert“. Die Muselmanen z.B., die mehrere Dutzend Millionen in Rußland ausmachen, organisierten damals – es war überhaupt die Epoche des ungeheuren Wachstums der verschiedenartigsten Organisationen – einen Muselmanenbund mit wunderbarer Schnelligkeit.
Um der Versammlung und namentlich den Jugendlichen ein Beispiel davon zu geben, wie die nationalbefreiende Bewegung, im Zusammen- hange mit der Arbeiterbewegung, im damaligen Rußland aus dem Boden emporwuchs, werde ich Ihnen ein kleines Beispiel vorführen.
Im Dezember 1905 verbrannten in Hunderten von Schulen die polnischen Schulkinder alle russischen Bücher, Bilder und Zarenporträts, prügelten und vertrieben die russischen Lehrer und russischen Kameraden aus den Schulen unter dem Ruf: „Fort mit euch nach Rußland!“ Die Forderungen der polnischen Schüler in den Mittelschulen waren unter anderem folgende: „1. Alle Mittelschulen sollen dem Arbeiterdelegiertenrat unterstellt werden; 2. das Abhalten gemischter Schüler- und Arbeiterversammlungen in den Räumen der Schulen; 3. das Tragen roter Blusen im Gymnasium, um die Angehörigkeit zur kommenden proletarischen Republik zu markieren“ usw.
Die Reaktion rüstete sich zum Kampfe gegen die Revolution mit um so größerer Energie und Rücksichtslosigkeit, je höher die Wellen der Bewegung gingen. Es bewährte sich in der russischen Revolution 1905 das, was im Jahre 1902 in seiner Schrift über die Soziale Revolution Karl Kautsky geschrieben hat (er war damals noch – beiläufig gesagt – ein revolutionärer Marxist und kein Verteidiger der Sozialpatrioten und der Opportunisten, wie heute). Er schrieb nämlich:
Die kommende Revolution … wird weniger einer plötzlichen Empörung gegen die Obrigkeit und mehr einem lang dauernden Bürgerkrieg gleichen.
So ist es auch gekommen! So wird es auch ganz sicher in der kommenden europäischen Revolution sein!
Der Haß des Zarismus richtete sich besonders gegen die Juden. Einerseits stellten die Juden ein besonders hohes Prozent (im Verhältnis zu der Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung) der Leiter der revolutionären Bewegung. Auch jetzt, sei beiläufig bemerkt, haben die Juden das Verdienst, ein merklich höheres Prozent der Vertreter der internationalistischen Strömung als andere Nationen aufzuweisen. Andererseits aber wußte der Zarismus ausgezeichnet die schlimmsten Vorurteile der ungebildetsten Schichten der Bevölkerung gegen die Juden auszunützen. So kamen die meistens durch die Polizei unterstützten, wenn nicht direkt geleiteten Pogrome zustande – in 100 Städten zählte man während dieser Zeit mehr als 4.000 Tote, mehr als 10.000 Verstümmelte – jene furchtbaren Metzeleien von friedlichen Juden, Frauen und Kindern, die den blutigen Zarismus in der ganzen zivilisierten Welt so verhaßt gemacht haben. Ich meine natürlich verhaßt unter den wirklich demokratischen Elementen der zivilisierten Welt, und das sind ausschließlich die sozialistische Arbeiterschaft, die Proletarier.
Die Bourgeoisie, auch in den freiesten, auch in den republikanischen Ländern Westeuropas, versteht es nur zu gut, ihre heuchlerischen Phrasen gegen die „russischen Greuel“ mit den schamlosesten Geldgeschäften zu verbinden, namentlich mit der finanziellen Unterstützung des Zarismus sowie auch mit der imperialistischen Ausbeutung Rußlands mittelst des Exports des Kapitals usw.
Den Gipfel der Revolution 1905 bildete der Dezemberaufstand in Moskau. Die kleine Zahl der Aufständischen, nämlich der organisierten und bewaffneten Arbeiter – sie waren nicht zahlreicher als etwa achttausend – leistete während neun Tagen Widerstand der zaristischen Regierung, die der Moskauer Garnison kein Vertrauen schenken konnte, dieselbe vielmehr hinter Schloß und Riegel halten mußte und nur dank der Ankunft des Semenowski-Regiments aus Petersburg den Aufstand zu unterdrücken imstande war.
Der Bourgeoisie beliebt es, den Moskauer Dezemberaufstand als etwas „Künstliches“ zu bezeichnen und zu verspotten. In der deutschen sogenannten „wissenschaftlichen“ Literatur hat z.B. der Herr Professor Max Weber in einem größeren Werke über die politische Entwicklung Rußlands den Moskauer Aufstand als einen „Putsch“ bezeichnet. „… Die Leninsche Gruppe“ – schreibt dieser „hochgelehrte“ Herr Professor – „und ein Teil der Sozialrevolutionäre haben den törichten Aufstand seit. längerem vorbereitet …“
Um diese professorale Weisheit des feigen Bürgertums bewerten zu können, genügt es, die trockenen Zahlen der Streikstatistik ins Gedächtnis zu rufen. Im Januar 1905 waren in Rußland nur 123.000 rein politisch Streikende, im Oktober 330.000, im Dezember wurde das Maximum erreicht, nämlich 370.000 rein politisch Streikende in einem einzigen Monat! Man vergegenwärtige sich die Fortschritte der Konterrevolution, die Bauern- und Militäraufstände, und man wird sofort zur Überzeugung gelangen: das Urteil der bürgerlichen „Wissenschaft“ über den Dezemberaufstand ist nicht nur lächerlich, es ist eine Verlegenheitsphrase der Vertreter der feigen Bourgeoisie, die im revolutionären Proletariat ihren gefährlichsten Klassenfeind sieht.
In der Wirklichkeit führte die gesamte Entwicklung der russischen Revolution naturnotwendig zu einem bewaffneten Entscheidungskampfe zwischen der zaristischen Regierung und der Avantgarde des klassenbewußten Proletariats.
Worin die Schwächen der russischen Revolution bestanden, die ihre vorläufige Niederlage zur Folge hatten, das habe ich schon in meiner früheren Auseinandersetzung angedeutet.
Seit dem Abwürgen des Dezemberaufstandes beginnt die absteigende Linie der Revolution. In dieser Periode gibt es auch höchst interessante Momente, besonders der zweimalige Versuch der kampfeslustigsten Elemente der Arbeiterklasse, den allgemeinen Rückgang der Revolution zu unterbrechen und denselben zu einer neuen Offensive zu machen.
Aber meine Zeit ist schon fast erschöpft – und ich will nicht die Geduld der Zuhörer zu lange in Anspruch nehmen. Und das Wichtigste zum Verständnis der russischen Revolution, ihres Klassencharakters und ihrer Triebkräfte, ihrer Kampfesmittel glaube ich gezeigt zu haben, insofern als so ein gewaltiges Thema überhaupt in einem kurzen Vortrag entwickelt werden kann.
Nur noch einige kurze Bemerkungen über die weltgeschichtliche Bedeutung der russischen Revolution. Rußland gehört sowohl geographisch als auch ökonomisch und geschichtlich nicht nur Europa, sondern auch Asien an. Und deshalb sehen wir, daß die russische Revolution nicht nur erreicht hat, daß sie das größte und das zurückgebliebenste Land Europas vollständig aus seinem Schlummer erweckte und das revolutionäre Volk, geführt durch das revolutionäre Proletariat, geschaffen hat.
Nicht nur das. Die russische Revolution hat das ganze Asien in Bewegung gebracht. Die Revolutionen in der Türkei, in Persien ,in China beweisen, daß die gewaltige Erhebung im Jahre 1905 tiefe Spuren hinterlassen hat und daß ihre Nachwirkungen in dem Fortschritt von Hunderten und aber Hunderten von Millionen Menschen unausrottbar sind.
Auf indirekte Weise hat die russische Revolution auch ihren Einfluß auf die westlich gelegenen Länder ausgeübt. Es darf nicht vergessen werden, daß am 30. Oktober 1905, als das Telegramm von dem konstitutionellen Manifest des Zaren nach Wien gekommen ist, diese Nachricht dort zum definitiven Siege des allgemeinen Wahlrechts in Österreich gewaltig beigetragen hat.
Es war während der Sitzung des Parteitages der österreichischen Sozialdemokratie, als der Genosse – damals war er noch kein Sozialpatriot, war er noch ein Genosse – Ellenbogen seinen Vortrag über den politischen Streik hielt, als man ihm auf den Tisch dieses Telegramm legte. Sofort wurden die Verhandlungen unterbrochen. Unser Platz ist auf der Straße – dieser Ruf erscholl in der Versammlung der Delegierten der österreichischen Sozialdemokratie. Und die nächsten Tage haben sowohl die größten Straßendemonstrationen in Wien als auch Barrikaden in Prag gesehen. Der Sieg des allgemeinen Wahlrechts in Österreich war entschieden.
Man trifft zu oft Westeuropäer, die über die russischen Revolutionen so urteilen, als ob die Ereignisse, die Vorgänge, die Kampfmittel in diesem zurückgebliebensten Lande zuwenig mit den westeuropäischen Verhältnissen vergleichbar seien und darum kaum irgendeine praktische Bedeutung haben können.
Nichts irriger als diese Meinung. Sicher werden die Formen sowie auch die Anlässe der kommenden Kämpfe in der kommenden europäischen Revolution von denen der russischen Revolution in mancher Hinsicht verschieden sein.
Aber trotz alledem bleibt die russische Revolution – eben wegen ihres proletarischen Charakters in dem besonderen Sinne des Wortes, von dem ich schon gesprochen habe – ein Vorspiel der kommenden europäischen Revolution. Es ist nämlich insofern unbestreitbar, daß diese kommende Revolution auch nur eine proletarische – und zwar in viel tieferer Bedeutung, auch ihrem Inhalte nach – nur eine proletarische, sozialistische Revolution sein kann! Diese kommende Revolution wird noch in viel größerem Umfange zeigen einerseits, daß nur harte Kämpfe und namentlich Bürgerkriege die Menschheit von dem Joche des Kapitals zu befreien vermögen, andererseits, daß nur die klassenbewußten Proletarier als Führer der großen Mehrheit der Ausgebeuteten auftreten können und auftreten werden.
Wir dürfen uns nicht durch die jetzige Kirchhofruhe in Europa täuschen lassen. Europa ist schwanger mit der Revolution. Die furchtbaren Greuel des imperialistischen Krieges, die Schrecknisse der Teuerung erzeugen überall revolutionäre Stimmung, und die herrschenden Klassen, die Bourgeoisie, und ihre Vertrauensleute, die Regierungen, sie geraten immer mehr und mehr in eine Sackgasse, aus der sie überhaupt ohne größte Erschütterungen keinen Ausweg finden können.
Wie die Volkserhebung in Rußland im Jahre 1905 unter der Führung des Proletariats gegen die zaristische Regierung zum Zwecke der Eroberung einer demokratischen Republik entstand, so werden kommende Jahre eben im Zusammenhange mit diesem Raubkriege die Volkserhebungen in Europa unter der Führung des Proletariats, gegen die Macht des Finanzkapitals, gegen die Großbanken, gegen die Kapitalisten erstehen lassen, und diese Erschütterungen können nicht anders als durch Expropriation der Bourgeoisie, als durch den Sieg des Sozialismus zu Ende kommen.
Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben. Aber ich glaube mit großer Zuversicht die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß die Jugendlichen, die so ausgezeichnet in der sozialistischen Bewegung der Schweiz und der ganzen Welt arbeiten, daß sie das Glück haben werden, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution.